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2022-10-20  |  Dr. Karsten Schmidt

Warum die Energiekrise auch eine Chance ist

Die Lage ist dramatisch. Expert:innen sprechen angesichts massiv gestiegener Energiepreise schon von Deindustrialisierung, immer mehr Unternehmen melden Insolvenz an, private Haushalte werden von teilweise brutalen Kostensteigerungen erdrückt. Schauen wir allein auf den Immobilienmarkt, so sehen wir jetzt schon, dass sich besonders in strukturschwachen Gebieten viele Immobilieneigentümer:innen die Zwischenfinanzierung der Gaspreise kaum leisten können. Zahlungsausfälle bei Mieter:innen sind schon jetzt Realität.

Es ist daher richtig und aktuell alternativlos, wirkungsvolle Rettungsschirme zu spannen, um die gesellschaftlichen Folgen dieser Preisentwicklung zumindest teilweise abzufedern. Trotzdem bleibt festzuhalten: Wir kleben ein Pflaster auf eine Wunde, die sich durch die fossile Energieversorgung gebildet hat. Doch wir müssen langfristiger und rationaler denken. Diese Krise ist als Chance zu begreifen. Ein paar Gedanken hierzu:

  1. Wir bauen die Erneuerbaren immer noch nicht konsequent genug aus. Wir müssen bürokratische Hürden abbauen, die heimische Industrie stützen, Ausbildungsprogramme für Fachkräfte von Morgen starten und ein ganzes Bündel an wirkungsvollen Einzelmaßnahmen treffen, um unabhängig von Energieträgern aus Russland und (mittel- bis langfristig) anderen autokratischen Staaten zu werden. Damit wird Energie nicht nur weniger stark zum Spielball geopolitischer Interessen. Sie wird auch günstiger, planbarer und ist damit eine soziale Absicherung für private Haushalte und ein Wettbewerbsvorteil für die heimische Wirtschaft.

  2. Wir müssen genauer überlegen, wo wir die Fördermittel und Ausgaben zur Abfederung der Energiepreise investieren. So notwendig es ist, einen Gaspreisdeckel auf den Weg zu bringen – wir müssen gleichzeitig in Modernisierung und Innovationen investieren. Wir werden die Energieautarkie nicht in einem Jahr erreichen. Aber wenn wir langfristig denken, könnte 2022 der Startschuss einer zweiten Offensive für die Erneuerbaren und innovative Energiekonzepte sein, die uns mittel- bis langfristig massive Vorteile bringt.

  3. Wir brauchen die richtige Förderung und mehr Aufklärung: Wir können heute schon über die Kopplung von Wärme und Strom die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern um über 90 Prozent senken. Das gelingt durch die Verwendung eigenen PV-Stroms, der für das Beitreiben einer Wärmepumpe verwendet wird. Dieser kann zudem, statt ins öffentliche Netz eingespeist zu werden, im Rahmen von Mieterstrom an die Bewohner:innen von Liegenschaften weitergegeben werden – und führt zu günstigen und stabilen Preisen. Hier gibt es immer noch fehlgeleitete Fördermittel sowie ein hohes Maß an Unwissenheit. Beispielsweise ist die Tatsache, dass Mieterstrom keine Gewerbesteuer für die Mieteinnahmen auslöst, bei vielen Immobilienbesitzern noch unbekannt.

  4. Wenn wir durch intelligente Sektorenkopplung, seriell umgesetzt auf große Liegenschaften mit Hunderten von Wohnungen, einen hohen Autarkiegrad erreichen und Mieterstromkonzepte voranbringen, hat dies einen positiven Nebeneffekt: Der schleppende Ausbau der Netzinfrastruktur kann dadurch erheblich kompensiert werden: Strom, der nicht mehr von Windkraftanlagen aus dem Norden in den Süden gebracht werden muss, weil er lokal erzeugt wird, ist günstiger und gleichzeitig nachhaltiger Strom.

Nur die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern und der Ausbau der Erneuerbaren, deren Produktion, Verteilung und Verfügbarkeit wir selber in der Hand haben, wird dazu führen, dass Strom und Wärme zukünftig nicht mehr zu sozialen Verwerfungen und wirtschaftlichen Schieflagen führen. Die Mittel sind vorhanden – wir müssen sie nur nutzen.